Analog zu der von unserem lieben Bürgermeister Wowereit geprägten Formel „Arm aber Sexy“ findet sich im russischen Selbstverständnis der in der Überschrift ausgedrückte Widerspruch. Heute wurde im Seminar ein kurzer Artikel aus der im russischen Volk populären Wochenzeitschrift „A i F“ besprochen. Einige Vetreter aus Wirtschaft und „Kulturindustrie“ kommen zu Wort, und – auch wenn der Artikel etwas älter ist – immernoch besser eine subjektive Einschätzung prominenter Russen als Urteile meinerseits.
Nach einem Artikel aus der Wochenzeitung „Argumenty i Fakty“ vom 7.6.2000
Wenn wir so klug sind, warum sind wir dann so arm?
Viktor Schenderovitsch, Schriftsteller und Fernsehmoderator:
„Wir sind so arm, weil wir denken dass wir so klug sind. Auf unsere Faulheit sind wir stolz. Wir rühmen uns dieser Besonderheit und vergessen dabei, dass ein Mensch, nur weil er besonders ist, nicht besser ist. Nur in unserem Land kann man im Gespräch mit Leuten die Wendung „krankhaft klug“ (больно умный) hören.
Kultur und Zivilisation – zwei Begriffe, die man auseinanderhalten sollte. Kultur heißt: Tschaikovskij, Tolstoj, Rachmaninov. Zivilisation heißt: der Zustand unserer Toiletten. Und der Stolz, den wir aus den Werken Tolstojs ziehen, sollte uns nicht davon abhalten, mit dem Geruch auf den Toiletten zu kämpfen (Anmerkung: ich mach mal nen Photo von den Klos hier =))
Emmanuil Vitorgan, Schauspieler:
„Aus irgendeinem Grund denken wir, dass wir zu Höherem berufen sind, und pfeifen deshalb darauf, was bei uns wirklich von statten geht. Daher auch die schlechte Arbeitsmoral. In allen anderen Ländern ackern die Leute so sehr, dass du garnicht merkst, dass die Arbeit, die sie ausführen, sie nicht ausfüllt, ihnen nicht gefällt. Und bei uns wird gemeckert, geschludert.
Vladimir Potanin, Vorsitzender der Interros-Holding (k.A., ob der da immernoch ist):
„Unsere Arbeitsmoral hängt von der Dringlichkeit der konkreten Arbeit ab: Das ist so vom Präsidenten bis zum Fabrikarbeiter. Die Essenz des russischen Charakters: Wenn die Lagerhalle brennt und die Ware in Gefahr ist, werden alle gegen das Feuer ankämpfen, unter Einsatz des eigenen Lebens. Und wenn es keinen Brand gibt? Dann bedienen sich alle am Lagerbestand und sind glücklich. Wir sind nur im Kriegszustand und im Brandfall zu guten Leistungen fähig“
Marina Knjazeva, Kulturwissenschaftlerin:
Der Begriff „Reichtum“ ist im kulturellen Unterbewusstsein unserer Nation nicht verwurzelt. Reichtum ist für uns nicht Selbstzweck, er muss stets mit einer Erweiterung des geistig-seelischen Horizonts verbunden sein. Wenn sich der Held in unseren Märchen auf den Weg macht, dann sucht er nicht Berge von Gold, sondern Vervollkommnung. Warum ist das so, warum ist der Begriff „Reichtum“ kaum ausgeprägt? Ich denke, dass die Gründe in den geographischen Eigenheiten unseres Landes liegen. Jeden Tag, ein anderes Wetter (Anmerkung: das ist vielleicht als Metapher auf die geopolitische Lage zu lesen – Unterjochung durch die Mongolen, Tributzahlungen etc.) – es war lange Zeit einfach unmöglich, unter diesen Bedingungen stabil zu leben. Heißt: unmöglich, Reichtum zu akkumulieren. Zweitens: die riesige Weite unseres Landes, permanente Umsiedlungen. Das Symbol unserer Kultur – das Pferd, also: Weg, Reise. Kann man viel an Reichtümern mitnehmen, wenn man ständig auf der Reise ist?